Glaubt man dem Amerikaner Patrich D. Cowden, sind Deutschlands Führungskräfte ein Haufen von Memmen. “Nirgends wird so ängstlich geführt wie in deutschen Chefetagen” – so heißt es im Prolog seines Buches “Mein Boss, die Memme: Was läuft schief in deutschen Chefetagen?“.
Es geht in der Manöverkritik allerdings nicht um die Führungskräfte, die gelegentlich Schwächen im Management und im Umgang mit ihren Angestellten zeigen. Cowden meint vielmehr die “Hardcore-Memmen”, die permanent Probleme aussitzen, ständig jammern, Konflikten aus dem Weg gehen, eigenes Versagen leugnen, Angst vor Neuem haben und nicht authentisch sind.
Aus Cowdens Blinkwinkel sind “Jammer-Memmen” genauso anstrengend wie “Macho-Memmen”, also der überzeichnend partizipativ Führende genauso unfähig wie der großmäulig auftretende Chef.
Mein Boss und ich
Die Sozialallergiker sind symptomatisch für ein typisch deutsches Problem. Nicht selten wird die beste Fachkraft zur Führungskraft umfunktioniert. Fähigkeiten wie Führungsstärke, Empathie und Durchsetzungskraft zählen weniger als Fachwissen, Projekterfahrung und Detailwissen der Prozesse.
Dabei macht es einen großen Unterschied, ob weiß, wie die Prozesse funktionieren oder ob ich mich damit auskenne, wie Menschen funktionieren und empathisch handele. Führungskräfte verschanzen sich in ihren Büros und sind menschenscheue Sozialallergiker.
Oder aber Kuschel-Junkies, denen Harmonie über alles geht und die in keinster Weise kritikfähig sind. Ganz anders ist der von Beruf neurotische Ego-Shooter, der ohne Rücksicht auf Verluste und mit unfairen Mitteln herrscht und egoman seine Ziele durchsetzt – obwohl er im Innersten ein zutiefst ängstlicher und feiger Mensch ist.
Mein Boss und das System
Cowden arbeitet heraus, dass es oftmals die Unternehmen selbst sind, die – bewusst oder unbewusst – aus Vorgesetzten und Angestellten Memmen machen. Weil das System anstelle von Vertrauen auf Kontrolle und Misstrauen setzt. Diese Fremdsteuerung begünstigt das (Nach-) Wachsen von Memmen-Chefs.
Der Autor nennt diese Spezies “Kontrollzwerge”. Und diese Zwerge sind seiner Meinung nach insbesondere in den Vorstands-Etagen der deutschen Unternehmen zu finden, es sind sozusagen die Top-Memmen. Auch die oft euphemistisch “Mehrwertbereiche” genannten Abteilungen wie Human Ressources und Controlling unterstützen den Zwang zur Kontrolle.
Denn nicht jeder Chef federt die Forderungen “von oben” ab und agiert als Prellblock. Nein, viele Chefs geben die überambitionierten Ziele ungefiltert und ungedämpft an die Mannschaft weiter; manch einer versteckt sich sogar dahinter und argumentiert “ich will das ja nicht, aber der Vorstand…”.
Cowden bricht aber auch eine Lanze für die Vorgesetzten, die eingezwängt vom System und im Wettbewerb mit Führungskräften der selben Ebene um ihr Standing täglich auf’s Neue kämpfen müssen. Eingezwängt von unten wie von oben müssen insbesondere Führungskräfte des unteren und mittleren Managements an allen Fronten bestehen. “Wie mächtig ein System ist, erkennt man an seinen Memmen. Wie gut aber ein Unternehmen ist, erkennt man an der Freiheit seiner Mitarbeiter.”, schließt der Autor den zweiten Teil ab.
Mein Boss und die Folgen
Das erfolgreiche Scheitern ist das Erkennungsmerkmal der Helden – mit diesem Fazit schließt der drittel Teil, der mit einem sehr persönlichen Rückblick des Autors endet.
Der amerikanische Schriftsteller gibt tiefe Einblicke in sein zwanzigjähriges Wirken in Deutschland und appelliert, das Scheitern als notwendigen Baustein auf dem Weg zu einer erfolgreichen Führungskraft zu sein.
Weg mit den Memmen
Während es in den bisherigen Teilen um die Vermittlung von Theorie ging, wird es im vierten Teil praxisorientiert. Zu Beginn kann anhand eines Fragenkatalogs in Erfahrung gebracht werden, nach welchem Schema der eigene Chef ticket: ob er ein Sozialallergiker, ein Kuscheljunkie oder gar der gefürchtete Ego-Shooter ist. Nach der Auswertung des Tests kann anhand einer Typisierung der verschiedenen (Misch-) Typen analysiert werden, wie der Umgang am besten zu gestalten ist. Dazu dienen die “sechs Tipps für memmengeplagte Mitarbeiter”.
Damit der Leser auf der Karriereleiter nicht in die Memmen-Falle tappt, gibt Cowden Ratschläge, wie aufrecht Karriere gemacht werden kann. Dazu zählt es auch, das eigene Memmen-Biotop in der Firma zu untersuchen. Anhand von 25 Fragen wird der eigene (oder potenzielle) Arbeitgeber bewertet und anschließend auf einer Memmen-Skala eingeordnet.
Gegen Ende des Buches vermittelt Cowden seinen eigenentwickelten fünfstufigen Plan zur energized leadership, die der krasse Gegenentwurf zum Memmentum in deutschen Firmen ist. Das Konzept fußt auf dem Glauben an sich selbst und das Team, das Teilen von gemeinsamen Werten sowie der Kombination von fachlicher und emotionaler Intelligenz. Bei richtiger Anwendung ist das Memmentum in der Firma, in der man beschäftigt ist, auf dem absteigenden Ast und wird über kurz oder lang aussterben.
Mein Fazit
Schon der Titel des Buches von Patrick D. Cowden ist eine Provokation. Er legt den Finger allerdings in eine Wunde, die nicht wegzudiskutieren ist. Denn jeder von uns hat sicherlich das eine oder andere Element in der Bestandsaufnahme der deutschen Führungskräfte wiedergefunden, die weniger mit Tatkraft als mit Duckmäusertum auf sich aufmerksam machen.
Das Buch ist kurzweilig und interessant geschrieben und animiert zum (Weiter-) Lesen. Es lebt von der lebendigen Sprache und ist von einer Metaphorik durchzogen, die selten aufgesetzt oder aufdringlich wirkt. Die Texte sind kurzweilig – auch dank vieler Erlebnisberichte aus dem Arbeitsleben – sei es persönlich vom Autor erlebt oder von anderen berichtet.
Cowden charakterisiert die unterschiedlichen Ausprägungen der Chef-Memmen und erklärt, wie man mit ihnen klar kommt. Jedes der vier Kapitel endet mit einem Fazit, das die Erkenntnisse zusammenfasst und Wege aus dem (Memmen-) Dilemma aufzeigt: indem man mit Offenheit, Menschlichkeit und Authentizität dem Memmen-Vorgesetzten deutlich macht, dass er mit seinem Verhalten auf dem Holzweg ist.
An einigen Stellen des Buches habe ich mir die Frage gestellt: sind Vorgesetzte wirklich überwiegend so? Denn Cowden gesteht, dass viele Memmen in Großkonzernen tätig sind, weil aufgrund der zahlreichen Hierarchiestufen ihr Fehlverhalten besser kaschiert werden kann. Darüber hinaus kann ich mir vorstellen, dass Behörden überwiegend die dargestellte Spezies beherbegen – frei nach dem Peter-Prinzip, nach dem Menschen so lange befördert werden, bis sie die höchste Stufe ihrer Inkompetenz erreicht haben. Aber ob das Memmentum flächendeckend in Deutschland dominiert, stelle ich in Frage