In der abgelaufenen Saison hat Borussia Dortmund erneut das Kunststück geschafft, europaweit die meisten Fans zu den Spielen ins Westfalenstadion zu locken. Knapp 80.000 Fans sind zu den 34 Spielen bei den Westfalen gepilgert, haben Siege gefeiert, bei Niederlagen getrauert und sich über unnötige Punkteverluste ihres Teams geärgert.
Damit steht der Vizemeister vor Weltklubs wie dem FC Barcelona, Real Madrid und Manchester United auf dem Siegertreppchen. Doch die Faszination Borussia Dortmund ist mehr als ein regelmäßig ausverkaufter Fußballtempel. Es sind die Fans des BVB, die für eine unbeschreibliche Stimmung unter dem Stadiondach sorgen und jedes Spiel, egal ob gegen Spitzenvereine oder Kellerkinder, zu einem ganz besonderen Ereignis machen.
Ulrich Hesse und Gregor Schnittker (der bereits ein beeindruckendes Buch über das Revierderby geschrieben hat) haben eben jenen Anhängern der Borussia ein komplettes Buch gewidmet: Unser ganzes Leben – Die Fans des BVB porträtiert auf 320 Seiten die Vielschichtigkeit der schwarz-gelben Fan-Szene, deren Leben mehr oder weniger intensiv jeden Tag von den drei Buchstaben B V B geprägt ist.
Die Protagonisten des Buches sind nicht die Torjäger, Mittelfeldstrategen und Abwehrrecken. Sondern die Südtribünen-Steher, Edel-Fans, Kuttenträger, Dauerkarten-Inhaber, Sitzplatz-Fans, Jugendliche, Ultras und Familienväter und -mütter mit ihren Töchtern und Söhnen. Und sie alle eint eins: die Liebe zur Borussia, die Liebe zum Verein.
“Ich hab’ mein Leben dir vermacht, jeden Tag und jede Nacht” – nach diesem Motto haben die schwarz-gelben Anhänger ihr Leben auf den BVB ausgerichtet und sind damit die wahren Hauptdarsteller des Vereins, deren Präsenz für den Klub über die wöchentlichen Bundesligaspiele hinausgeht.
In sechs Kapiteln wird die Entwicklung der Fans von Borussia Dortmund vorgestellt. Angefangen von der Zeit vor dem zweiten Weltkrieg (“Es war wie eine Familie”) über die goldenen Fünziger und Sechziger mit Meisterschaften und Europapokalsieg (“Es war alles selbst gemacht”) sowie die Depression der siebziger Jahre, die in Abstieg und Wiederaufstieg gemündet sind, bis hin zur jüngsten Vergangenheit (“Menschen können dich enttäuschen, Borussia nicht”) ist alles mit dabei.
Die Lebendigkeit der erzählten Historie ist den zahlreichen Gesprächspartnern zu verdanken, die Schnittker und Hesse in monatelanger Recherche aufgetan haben. Verständlicherweise sind die Quellen umso rarer je älter die Ereignisse zurückliegen. Dennoch gelingt es grandios, die damalige und auch heutige Zeit wieder aufleben zu lassen.
Die Suche nach Peter “Erbse” Erdmann, dem Komponisten des legendären BVB-Walzers zieht sich wie ein roter Faden durch das gesamte Buch und beschreibt das spannende Projekt, den schon tot geglaubten Fan am Ende doch noch ausfindig zu machen. Erbse befand sich in den siebziger Jahren im Konflikt mit der gefürchteten Borussenfront und tauchte nach gewalttätigen Übergriffen gegen seine Familie und ihn unter.
Insbesondere diese Reise auf der Suche nach dem Phantom Erbse ist ein echtes Highlight des Buches. Nach monatelanger Recherche kann Erdmann ausfindig gemacht und seine Biografie bei Borussia aufgeschrieben werden. Nicht nur einmal wird erlebte Geschichte lebendig, nicht nur einmal gibt es Gänsehaut-Momente beim Lesen. Die lange Reise auf der Suche nach dem Phantom Erbse ist ein echtes Highlight des Buches. Nach monatelanger Recherche kann Erdmann ausfindig gemacht und seine Biografie bei Borussia aufgeschrieben werden. Nicht nur einmal wird erlebte Geschichte lebendig, nicht nur einmal gibt es Gänsehaut-Momente beim Lesen.
Ebenso spannend wie Erbses Entdeckung ist der Abschnitt über den Bau des Westfalenstadions mit der Frage, wieso die eingefleischten Fans aus der Nordtribüne des Stadions Rote Erde in den siebziger Jahren auf die Südtribüne des neugebauten Stadions gewechselt sind. Die Antwort auf diese Frage ist genauso überraschend wie einleuchtend.
Uli Hesse hat außerdem Karl-Heinz Bandosz, den Sänger des populären Schlagers – und nicht des Vereinslieds! – “Heja BVB” und des Liedes “Die Perle vom Borsigplatz” ausfindig gemacht. Komponiert wurde die Hymne übrigens von einem Kölner. 1977 veröffentlicht, ist der Song schnell zu einem Klassiker avanciert und wird im Westfalenstadion kurz vor dem Anpfiff kräftig von den schwarz-gelben Borussen intoniert.
Auch dunkle Kapitel der Fan-Geschichte werden aufgeschlagen. Die in Bezug auf Gewalt und Rechtsradikalismus dunklen Achtziger werden ausführlich anhand der damals gefürchteten Borussenfront beleuchtet. Für den Fan der “Neuzeit”, der Fußball und den Besuch im Stadion als Event versteht und erlebt, werden die Schilderungen von Steinwurfhagel, Polizeischlachten, Schlägereien, rechtsradikaler Gesinnung und Todesfällen wie ein Schlag in die Magengrube sein. Zu dieser Zeit wurden Fans des BVB – ungerechtfertigterweise – auf die Borussenfront reduziert.
Der Urknall der Südtribüne, der den Mythos Westfalenstadion mit dieser unbeschreiblichen Stimmung und Leidenschaft begründet hat, fand im Mai 1986 statt. Im zweiten Relegationsspiel gegen Fortuna Köln, als Borussia so gut wie abgestiegen war und Jürgen Wegmanns Tor eine Stimmungsexplosion ausgelöst hat, die die Mannschaft noch Tage später zu einem Kantersieg gegen die Rheinländer und den Klassenerhalt geführt hat. Auch dieses Ereignis wird in dem Band aus dem Verlag Die Werkstatt hinreichend erörtert.
Mit dem Pokalsieg 1989 begann die unzertrennliche Beziehung zwischen den Fans und ihrem BVB. Weg von der Gewalt und den Ausschreitungen abseits des Spielfeldes und hin zu Euphorie, Leidenschaft und Identifikation. Es war der Startschuss zu einer neuen Ära, zu einer neuen Fußballbegeisterung, die bis heute anhält und die Gelbe Wand und das Westfalenstadion zum beliebtesten und besten Stadion der Welt gemacht hat.
Auch die Entstehung des “Olé, hier kommt der BVB”, beruhend auf dem Song Go West von den Pet Shop Boys im Jahre 1993 wird erzählt. Damals gastierten die Dortmunder in Bröndby und einer spontanen Eingebung folgend wurde die Liedzeile gedichtet. Es war die Zeit der legendären Europapokal-Nächte in Auxerre, Manchester, Saragossa und Turin, die im Mai 1997 in den Gewinn der Champions League Trophäe gemündet ist.
Das Buch lebt von den zahlreichen Anekdoten, Erzählungen und Geschichten aus meiner als einem Dreivierteljahrhundert Fan-Geschichte von Borussia Dortmund. Und auch die zahlreichen – überwiegend privaten – Fotos aus allen Epochen der Vereinsgeschichte sind eine echte Fundgrube an schwarz-gelben Erinnerungen aus der guten, alten Zeit und der jüngsten Vergangenheit.
Uli Hesse und Gregor Schnittker haben ein Geschichtsbuch geschrieben, das einzigartig ist und das voller Faszination, Ehrfurcht und Detailliebe von den Fans der Borussia zu ihrem Verein berichtet, für die ihr Verein mehr als nur der inflationär gebrauchte Slogan “Echte Liebe” ist: ein Lebensinhalt und eine Einstellung.
Das schreiben andere Blogger
Sylvia vom Rote Erde Blog hat das Buch auch gelesen und verleiht das Prädikat “mehr als lesenswert”: Buchtipp: „Unser ganzes Leben“ – Die Fans des BVB