Die Welt, in der Kinder heute heranwachsen, war noch nie zuvor so behütet und straff durchorganisiert.
Noch bevor die Babies die ersten Worte nachplappern können, haben emsige Eltern Lernpläne konzipiert, frühkindliche Erziehungskurse belegt und bilinguale Krabbelgruppen gebucht. Und das alles nur, damit es dem Kind in der Zukunft gut geht, damit es auf dem Stellenmarkt der Zukunft gut dotierte Jobs bekommt und damit sich die Eltern mit den Lernfortschritten ihres Nachwuchses brüsten können.
Schöne neue Welt? Weit gefehlt. Die emotionale Vereinsamung der Kinder ist in unserer Zeit genauso Thema wie die Segmentierung in High Potential Kids und Versager-Kids. Die Bewegungsarmut und damit einhergehende Adipositas ist noch nie so groß gewesen wie heute. Dazu kommen Computer- und Video-Spielsucht und Cyber-Mobbing.
Herbert Renz-Polster und Gerald Hüther haben diese aktuellen Themen im Hinterkopf, wenn sie in ihrem Buch Wie Kinder heute wachsen: Natur als Entwicklungsraum. Ein neuer Blick auf das kindliche Lernen, Denken und Fühlen den Weg zurück zur Natur propagieren. Doch bei diesem Ruf handelt es sich nicht um die Aufforderung, die Natur für die Kinder zurückzuerobern (was aufgrund der Urbanisierung ohnehin nicht mehr möglich ist).
Vielmehr geht es dem Kinderarzt und dem Neurobiologen darum, das Kind im ganzheitlichen Ansatz zu verstehen, seine Bedürfnisse zu erkennen und ihm von Beginn an ein standfestes Fundament in Form von festen Wurzeln zu vermitteln, um im Leben und dessen Herausforderungen zu bestehen.
Nach Ansicht von Renz-Polster benötigen die Kinder zur Entwicklung Gestaltungsmöglichkeiten und ihren eigenen Raum, um die Kompetenzen zum Wachsen zu entwickeln, die essenziell sind: Unmittelbarkeit, Freiheit, Widerständigkeit und Verbundenheit.
Der Begriff “Natur” umfasst für Herbert Renz-Polster aber nicht nur die klassische, unberührte Natur mit offenen Feldern, saftigen Wiesen und dunklen Wäldern sowie plätschernden Bächen. Er subsumiert darunter auch Gärten, Spielstraßen, Hinterhöfe, Baugruben und verlassene Fabrikgelände und alte Dachböden. Also Orte, die Freiräume und Entfaltung für Kinder bieten, selbstbestimmtes Handeln fördern und nicht in engen Räumen stattfinden.
Auch (elektronische) Medien können solche Räume bieten. Das Fernsehen und noch viel mehr die Computer- und Videospiele bieten Freiheitsgrade und eine Welt, die offen ist. Allerdings mit Einschränkungen und damit nicht unmittelbar, wie es die klassische Natur bietet. Das fünfte Kapitel setzt sich mit Videospiel, Computer, Internet und Smartphone auseinander. Allerdings nicht mit dem erhobenen Zeigefinger, sondern wohltuend angemessen und die verschiedenen Blickrichtungen betrachtend.
Denn die Medien, die in direkter Konkurrenz zur klassischen Natur treten, bieten ebenfalls Raum zum Spielen, zum Ausprobieren und zum wirksam sein für Kinder. Dennoch gibt es die negativen Seiten wie Vereinsamung, Spielsucht und andere Symptome. Allerdings sind die wissenschaftlichen Erkenntnisse noch nicht ausgeprägt genug, um nachhaltig belastbare Ergebnisse zu liefern.
“Licht und Schatten, eng beeinander.”, so lautet denn auch das Fazit von Herbert Renz-Polster. Ohne “ja und nein, vielleicht”-Meinung ist der Kinderarzt aber im Hinblick auf die Frage nach elektronischen Medien für die Kleinen. Das Leben außerhalb der Natur, also in geschlossenen Räumen, verteufelt Renz-Polster nicht.
Stattdessen geht es ihm darum, die Natur als Quelle und zum Erlernen wichtiger Kompetenzen für das Leben zu nutzen. Die Freiheit und Unmittelbarkeit der Natur sowie die Verbundenheit mit den Elementen zu erleben und zu spüren. Am Ende geht es nicht um die Frage Drinnen oder Draußen und reale oder virtuelle Welt, sondern um die passende Balance zwischen Drinnen und Draußen sowie realer und virtueller Welt.
Die beiden Autoren geben Eltern, Pädagogen und thematisch Interessierten einen Kompass für den Umgang mit der Frage nach dem Wie an die Hand. Die Ausgestaltung der richtigen “Dosis” von Natur und Virtualität müssen die Eltern bestimmen. Und das immer mit dem Bewusstsein, den Nachwuchs auf die Herausforderungen des Lebens vorzubereiten.
“Wir reden von Selbstvertrauen und hätten gern Kinder, die das haben – aber woher sollen sie es nehmen, wenn wir selbst kein Vertrauen haben?” Mit dieser Frage macht Renz-Polster deutlich, dass die Eltern maßgeblich Teil des Problems sind.
Und zielt damit nicht nur auf die sogenannten Helikopter-Eltern ab, die ihre Sprößlinge behüten, beschützen und viele Tätigkeiten abnehmen – ohne dass die Kinder auf die Suche nach Abenteuer und Entdeckungsreisen gehen dürfen, weil es “ja super gefährlich dort draußen ist” und Angst vor Verletzungsgefahren haben.
Nur die Eltern können – gemeinsam mit den involvierten Pädagogen – diesen Umdenkungsprozess in Gang setzen. Sie müssen lernen, loszulassen, den Kindern Vertrauen schenken und bewusste Freiräumes schaffen und nutzen lassen.
Das Buch Wie Kinder heute wachsen: Natur als Entwicklungsraum. Ein neuer Blick auf das kindliche Lernen, Denken und Fühlen aus dem Beltz-Verlag ist in diesem Zusammenhang eine Pflichtlektüre für alle, denen Kinder und ihre Entwicklung am Herz liegen.
Denn: Es ist nie zu spät, um mit etwas Neuem anzufangen.