Seit einigen Jahren läuft etwas schief mit unseren Kindern und Jugendlichen.
Fast jeder von uns kennt Beispiele von Kindern, die sich außerhalb der Norm bewegen, als verhaltensauffällig gelten oder die Anforderungen in der Schule nicht erfüllen können und wenig Durchhaltewillen zeigen.
Doch es liegt oftmals nicht am Unwillen der Kids und Teens, sondern an ihrem Unvermögen aufgrund der fehlenden psychischen Entwicklung in jungen Jahren. Tradierte Werte wie Pünktlichkeit und Pflichtbewusstsein fehlen oftmals genauso wie Empathie, Frustrationstoleranz und angemessene Umgangsformen.
Stattdessen haben diese Kinder keine ihrem Alter entsprechende Psyche, sondern sind auf der Stufe von Kleinkindern stehen geblieben, die nur sich selbst kennen und keine Folgen von Handlungen einschätzen können. Den Kindern ist am wenigsten ein Vorwurf zu machen, argumentiert Winterhoff in seinem neuesten Buch SOS Kinderseele.
Vielmehr sind es die Elternhäuser, die aufgrund der Projektion und Symbiose solche Verhaltensweisen mit fehlender Konfliktfähigkeit, fehlender Empathie und fehlendem Unrechtsbewusstsein erst ermöglichen und eine Krise der emotionalen und sozialen Entwicklung herbeiführen.
Damit diese Zusammenhänge besser verständlich werden, skizziert Winterhoff in dem Buch aus dem C. Bertelsmann Verlag zu Beginn die emotionale und soziale Entwicklung der menschlichen Psyche. In verständlichen Worten und ohne Fachchinesisch werden die Zusammenhänge deutlich.
Die kindliche Psyche entwickelt sich am erwachsenen Gegenüber
Das ist einer der elementaren Erkenntnisse des Autors: die kindliche Psyche entwickelt sich am erwachsenen Gegenüber, und er ruft diesen Satz wiederholt ins Gedächtnis – denn es ist der Schlüssel zur Auflösung des eingangs geschilderten Dilemmas.
Insbesondere Eltern und Pädagogen, die das Kind in der Zeit des Aufwachsens begleiten, sind prägend für die Entwicklung der emotionalen und sozialen Kompetenz. Doch viele Erwachsene können den Kindern den nötigen Halt und das in sich Ruhen nicht bieten.
Weil sie selbst gestresst sind (oder sich stressen lassen). Weil sie nur für den Moment leben und nicht an die Zukunft denken (oder ihnen nicht die Möglichkeit gegeben wird). Weil sie das Gefühl haben, alles stürzt auf sie ein und sie sind nicht Herr der Lage (oder sie ihre Rolle als Vorbild selbst nicht ausfüllen).
Schuld daran ist nicht zuletzt das partnerschaftliche Konzept vom Kind. In diesem Konzept sehen die Eltern ihren Sprössling als gleichberechtigten Partner, der er qua Entwicklung gar nicht sein kann, und können damit den notwendigen Halt nicht geben.
Hat sich Winterhoff in seinen bisherigen Büchern auf die Entwicklung in den Familien und in der Gesellschaft allgemein fokussiert, so hat er in diesem Buch die Situation in Kindergärten und Schulen im Blick.
Mütter als Hilfslehrer sind der falsche Weg
Insbesondere Helikoptereltern und Mütter, die sich nachmittags als Hilfslehrer verdingen, sind dem Therapeuten ein Dorn im Auge. Denn nicht die Anforderungen in der Schule sind nachhaltig gestiegen: vielmehr nehmen Eltern im Zuge der Symbiose den Druck auf ihr Schulkind als Druck auf sich selbst wahr.
Das gipfelt dann in aggressivem Eltern-Verhalten gegenüber den Lehrkräften, die es in dieser Häufigkeit und Intensität bislang nicht gegeben hat. Davon unbenommen ist die Frage, ob Eltern den Kindern in schulischer Hinsicht behilflich sein sollen: selbstverständlich. Aber hier ist Hilfe zur Selbsthilfe das erste Gebot.
Und auch im Kindergarten setzen sich immer mehr offene Konzepte durch, in denen Erzieherinnen zu Aufpassern verkommen und das hochgelobte Lied der Selbstständigkeit der Kinder gesungen wird. Nicht selten kommt es vor, dass sich Pädagogen in Kindergärten und Schulen immer mehr zu Reparaturbetrieben degradiert sehen, die retten sollen, was in den Familien nicht mehr klappt.
Um eine Umkehr der Missstände zu erreichen, fordert der Autor auf, die pädagogischen Konzepte an Kindergärten und Grundschulen generell zu überarbeiten. Er ermutigt die Verantwortlichen, nicht jeden neuen Trend in der Pädagogik mitzunehmen und jedes neue Konzept auszuprobieren. Insbesondere der Grundschule fällt in diesem Zusammenhang eine Schlüsselrolle zu.
Nur so ist gewährleistet, dass unsere Kinder wieder die nötige emotionale und soziale Reife erreichen, um die weiterführenden Schulen und die anschließende Ausbildung oder das Studium erfolgreich zu absolvieren.
Ein wichtiges Buch mit wichtigen Erkenntnissen
Michael Winterhoff polarisiert auch mit SOS Kinderseele: Was die emotionale und soziale Entwicklung unserer Kinder gefährdet – und was wir dagegen tun können.
Der Kinderpsychologe ist kein Kuschel-Pädagoge, sondern nennt die Defizite unserer Gesellschaft, die mit dem Wandel von der analogen zur digitalen Gesellschaft scheinbar einhergehen, beim Namen.
Wenn er bei dem einen oder anderen Aspekt für meinen Geschmack auch über das Ziel hinausschießt, ist der Kern seiner Botschaft genauso klar wie einleuchtend: es muss sich etwas ändern, damit sich die emotionale und soziale Psyche der Heranwachsenden wieder altersgemäß entwickeln kann.
Im Epilog hält der Psychotherapeut treffend fest
Das zentrale Problem dabei sind aber nicht die Kinder, sondern wir Erwachsenen.
Wir verkraften die gesellschaftlichen Veränderungen seit Anfang/Mitte der Neunzigerjahre nicht mehr. Dadurch gerät ein funktionierendes gesellschaftliches System aus dem Gefüge.
Immer mehr Eltern lassen sich im Rahmen einer Symbiose, in der sie unbewusst geraten sind, vom Kind steuern.
Es liegt also an uns, diesen unerträglichen Zustand zu ändern!