Auf diese Idee ist bisher niemand gekommen: Von Januar bis Dezember 2013 hat Roger Willemsen von der Zuschauertribüne die Sitzungen des Deutschen Bundestages verfolgt und seine Erlebnisse und Erkenntnisse niedergeschrieben.
Kein Thema ist ihm zu langweilig, keine Debatte zu spröde. Sei es der Einsatz in Afghanistan oder der Skandal um Pferdefleisch in der Lasagne. Oder auch Dioxin im Hühnerei und die Frage des Leistungsschutzrechts oder der Armutsbericht. Jede Debatte wird von dem Publizist in Das Hohe Haus: Ein Jahr im Parlament aufmerksam verfolgt und bewertet.
Natürlich geht der Autor auch auf die Inhalte der politischen Debatten ein. Doch viel mehr imponiert das Sezieren der Rhetorik der Volksvertreter. Willemsen merkt die Selbstverliebtheit der Protagonisten an, ihre Polemik und ihre fiesen persönlichen Angriffe gegen die gegnerischen Parteien sowie die teilweise grenzwertige Art der Argumentation im Rededuell.
Noch stärker als die Zusammenfassung der Besuche im Berliner Reichstagsgebäude beeindrucken die Beobachtungen von Roger Willemsen. Wenn er beispielsweise von Sahra Wagenknechts Rede im Februar 2013 berichtet, die von den meisten Mitgliedern der deutschen Bundesregierung nur en passant verfolgt wird und stattdessen lieber Akten studiert und Schwätzchen mit dem Parteikollegen gesucht werden.
Dann fasst Willemsen treffend zusammen: “Das Parlament ist am ehesten ein Büro mit angeschlossener ‘Speaker’s Corner’.”
Doch es sind nicht nur die Beschreibungen und Analysen der Reden im Parlament, die Roger Willemsen treffsicher erledigt. Er gräbt auch in der Geschichte des Reichstages und der Geschichte des Bundestages und fördert dabei viele Details zutage, die sicherlich nicht dem Allgemeinwissen zuzuordnen sind.
Spannend sind die Ereignisse, die Roger Willemsen abseits der Debatten beobachtet. Wenn er Politiker während einer Rede eines Kollegen beim Feixen oder am iPad spielen “erwischt”, wenn er das offensichtlich zur Schau getragene Desinteresse am Thema einer Diskussion unserer Volksvertreter entlarvt.
In Das Hohe Haus ist nicht die Creme de la Creme der Bundespolitiker der Star. Es sind vielmehr die Politiker aus den hinteren Reihen der CDU, SPD, der Linken und der Grünen, die ihre großen und auch kleinen Auftritte haben – und damit einen besseren Leistungsnachweis als einige der Etablierten verdient haben.
Ich gestehe, dass ich an einigen Stellen Mühe hatte, mich zu motivieren, das Buch weiterzulesen. Zu langatmig habe ich manche geschilderte Debatte empfunden, zu anstrengend war der elaborierte Sprachcode Roger Willemsens für mich. Denn
Das Hohe Haus: Ein Jahr im Parlament ist kein Buch zum entspannten Lesen. Es ist ein Buch, das teilweise anstrengend, teilweise amüsant ist. Und das voller Wissen steckt und gerade deshalb so lesenswert ist.
Die Mühe lohnt sich. Die Belohnung ist ein interessanter, aber auch manchmal anstrengender Einblick hinter die Kulissen des Treibens unserer Volksvertreter.