Es ist eine schwierige Sache mit der Autonomie. Was ist Autonomie eigentlich?
Insbesondere vor dem Hintergrund, dass das Selbstverständnis moderner pluralistischer Demokratien darauf baut, dass Menschen selbstbestimmt – und nichts anderes bedeutet autonom – handeln und entscheiden können, ist diese Frage alles andere als einfach zu beantworten.
Michael Pauen und Harald Welzer gehen dieser Frage in Autonomie: Eine Verteidigung nach und versuchen, eben jenen Begriff zu (er)klären. Und das gleich auf mehreren Ebenen. Autonomie als Eigenschaft, als Werte-Maßstab, als Fähigkeit, als Folge der gesellschaftlichen Umstände, die Autonomie ermöglicht oder blockiert?
Denn die Autonomie ist heute genauso unverzichtbar wie gefährdet. Wir leben in einer autonomen Gesellschaft. Sie verschafft uns als Individuum Entscheidungs- und Handlungsspielräume und gibt uns die Möglichkeit, unser Leben selbstbestimmt zu gestalten. Autonome Staaten können eigene Gesetze erlassen und sich – im Rahmen der Möglichkeiten – entwickeln.
Zu Beginn gibt es eine Begriffserklärung der Autonomie an sich und seine Abgrenzung zur Willensfreiheit. Außerdem werden Anomie und Heteronomie, besser bekannt als Konformismus, näher beschrieben.
Anschließend wird die Geschichte der Autonomie von der Antike bis in die Gegenwart beleuchtet. Eigentlich beginnt die Autonomie erst in der Zeit der Aufklärung und kann seitdem als Errungenschaft der Menschheit bezeichnet werden.
Über die empirischen Erkenntnisse der Autonomie im dritten Kapitel wird die Brücke zur heutigen Autonomie und ihren Chancen und Risiken geschlagen. Denn Autonomie spielt gesellschaftlich eine ambivalente Rolle. Wer möchte heute schon als angepasster Ja-Sager gelten? Vielmehr sind Attribute wie “selbständig”, “durchsetzungsstark” und bisweilen auch “eigenwillig” erstrebenswerte Attribute. Doch wie so oft kommt es auch hier auf die Balance an.
In diesem Kapitel werden auch anhand von Fallstudien die Autonomie und ihre Formen näher betrachtet. Anhand der Männer des Reservepolizeibataillons 110, die im zweiten Weltkrieg tausende von Morden begangen hatten, wird deutlich, dass autonom zu handeln in der Regel eine Frage der sozialen Figuration ist, von der man gerade ein Teil ist, und eine Frage der Aufgabe, die aktuell zu bewältigen ist. Je nach Art der aktuellen Rolle im Leben kann also autonom oder auch konform gehandelt werden.
Anhand eigener Experimente und im Abgleich mit historischen Untersuchungen weisen Pauen und Welzer nach, dass sich bei Menschen unabhängig von ihrer Persönlichkeit keine Vorhersagen in Entscheidungssituationen aufgrund ihrer Einordnung in autonome oder konforme Personen treffen lassen. Generell lässt sich festhalten, dass Menschen in Gruppensituationen zu konformem Verhalten tendieren, auch wenn sie sich für autonom halten. Es hängt also an den sozialen Bedingungen der Situation.
Insbesondere die Situation im dritten Reich wird in diesem Kapitel behandelt. Die beiden Autoren untersuchen, wie sich das Verstecken und Unterstützen der Juden im Spannungsfeld des autonomen und konformen Handels realisieren ließ und welche Faktoren dabei relevant gewesen sind.
Das vierte Kapitel widmet sich der Autonomie in der heutigen Zeit. Michael Pauen und Harald Welzer sehen die Autonomie in Zeiten von Big Data und Social Media sowie Shitstorms als stark bedroht an und belegen dies auch mit Beispielen. Diesen Ansatz, den Harald Welzer bereits in seinem Buch Selbst denken – Eine Anleitung zum Widerstand ausgeführt hatte, kann ich allerdings nur teilweise nachvollziehen und gutheißen. Auch das Buch Der Circle von Dave Eggers wird als Beispiel für diese Schlussfolgerung angeführt.
Insbesondere im Internet sehen beide die Autonomie des Einzelnen gefährdet. Die sozialen Netzwerke forcieren den sozialen Druck, wenn beispielsweise nicht “just in time” auf Anfrage per Messenger geantwortet wird oder Cybermobbing und Shitstorms ertragen werden müssen. Einige der Beispiel sind für meinen Geschmack arg dick aufgetragen.
Im Abschlusskapitel von Autonomie: Eine Verteidigung plädieren die beiden Autoren für “Eine Verteidigung der Autonomie”. Dieser Abschnitt ist gleichzeitig eine Zusammenfassung der bis dahin knapp 260 Seiten. Welzer und Pauen erklären, warum Autonomie eine bewahrenswerte Errungenschaft ist – trotz des oft gelebten Konformismus.
Denn ein Verlust der aktuell gelebten Freiheitsspielräume ist gleichbedeutend mit einem substanziellen Verlust an Lebensqualität. Das darf nicht in Vergessenheit geraten.