Wenige Kommentatoren im Fußball polarisieren so stark wie Marcel Reif. Und über wenige Kommentatoren ist persönlich so wenig bekannt wie über Marcel Reif.
Denn nur eine Minderheit weiß, dass der 67-jährige im Jahr 1984 als Journalist dem politischen Ressort den Rücken gekehrt und sich dem Sport zugewendet hat. In Nachspielzeit – Ein Leben mit dem Fußball schreibt Reif gemeinsam mit Holger Gertz über sein Leben, den Fußball und beweist dabei, dass er nicht nur ein brillanter, streitbarer Kommentator, sondern auch ein begnadeter Beobachter ist.
Keine klassische Biographie
Dabei handelt es sich bei dem Buch aus dem Kiepenheuer & Witsch Verlag weniger um eine klassische Autobiographie, sondern vielmehr um eine Sammlung von Geschichten und Anekdoten rund um den Fußball in der Bundesliga, in Europa und der Welt. Angereichert werden diese Stories um einige wenige persönliche Informationen und Episoden des Mannes, der in Kaiserslautern groß geworden ist.
Reif wäre nicht Reif, wenn er auch die eine oder andere Spitze losließe und den einen oder anderen Giftpfeil abschieße. Ob Sepp Blatter und die Kommerzialisierung des Sports. Ob der Sprechdurchfall der heutigen Fußball-Kommentatoren-Riege, die sich immer wieder neu erfinden will, oder auch die Machenschaften der FIFA: Reif legt den Finger in die Wunde und spricht Klartext.
Unterhaltsame Dialoge mit Tiefgang
Weil die Zusammenarbeit mit dem Journalisten Holger Gertz so wunderbar funktioniert hat, finden sich gleich drei Dialoge des Duos im Buch wieder. Gertz und Reif debattieren über die stillen und weniger stillen Momente nach dem Abpfiff, über die unsäglichen Folgen der oft alles andere als sozialen Medien und über Trikots im Besonderen.
Insbesondere wenn sich Reif vom sportlichen Geschehen ab- und dem Privaten zuwendet, wird es sehr ergreifend in der Nachspielzeit. Ergreifend in einer leisen Art, nicht pathetisch. Wenn er von seinem Vater schreibt, dessen Überleben im Dritten Reich von Berthold Beitz gesichert wurde.
Wenn er von seiner Grundschulzeit spricht, in welcher der Fußball und sein Geschick am Ball für ein Weiterkommen gesorgt haben. Sehr berührend ist das Kapitel über den Kollegen und sehr, sehr guten Freund Michael Palme, dessen Tod ein herber Schicksalsschlag gewesen ist.
Eine Stradivari unter Arschgeigen
“Unter den Arschgeigen bist du die Stradivari”, hat ein Fan seine Zuneigung gegenüber Marcel Reif via Fanpost bekundet. Und so lief es oft als Kommentator am Mikrofon. Entweder sie lieben dich oder sie hassen dich, wobei Hass ein viel zu starkes Wort ist. Schließlich geht es nur um Fußball.
Nur um Fußball? Reif hat auch andere Dimensionen erlebt. Der Shitstorm auf Twitter ist das eine, Bierbecher-Würfe das andere. Und beinahe auch Handgreiflichkeiten musste de Endsechziger über sich ergehen lassen. Dinge, die kein Mensch braucht.
Wenn der Sportkommentator von diesen Begegnungen rückblickend berichtet, kommt die Milde des Alters durch. Alles halb so schlimm, ist ja nur Fußball. Oder auch mehr als nur Fußball.
Jubel über den Abschied? Nein, eher Trauer
Groß war der Jubel, als Reif seinen Abschied von Sky mit dem Ablauf der Saison 2015/2016 bekanntgegeben hat. Genauso groß ist die Trauer, seitdem deutlich wird, welche Lücke Reif hinterlassen hat. Und seitdem ich Nachspielzeit – Ein Leben mit dem Fußball gelesen habe, vermisse ich Marcel Reif ein kleines Stückchen mehr.
Und das obwohl ich Dortmunder Borusse bin. Jener Fan des Klubs aus dem Ruhrgebiet, die eine besonders innige Abneigung gegenüber Reif verspüren. Wieso auch immer das auch so sein mag.
Kein Kasparletheater
P.S. Wer in der Biographie, die keine ist, ein Kapitel über den Torfall von Madrid sucht, wird enttäuscht sein. Außer einer kleinen Randnotiz erscheint dieses “Kasperletheater” mit Günther Jauch nicht. Und das ist gut so.
Denn Marcel Reif, der seit seinem Abgang beim Pay-TV Sender Sky als Experte im Schweizer Fernsehen tätig ist, hat viel, viel Spannenderes und Unterhaltsameres als über ein defektes Tor vor einem Champions League Spiel in Madrid zwischen Real und dem BVB zu berichten.